Sommer 1987. Als die Sehnsucht ein vor sich hin dösender, kaum geküsster, und folglich unschwer ruhig zu stellender Riese Namens Niemand gewesen ist, dessen langsam erwachendem Appetit auf mehr und Welt, mit einer kühlen Cola und einem Quantum Pop noch allerbestens beizukommen war.
Mit meinem Vater auf Sardinien. Im Radio die Meldung: Achtung, akute Wasserknappheit. Grund für die meisten Autobesitzer, ihrem Gefährt noch schnell einen Vollwaschgang zu verpassen, bevor da vielleicht bald nichts mehr geht. Alles fährt und steht in einer langen, trägen Schlange zum Meer und hupt, dazwischen wir als mäandernde Spaziergänger, ungläubig beäugt wie selten gewordene Tiere.
Ich, mit blond gefärbter Tolle, Ohrring, Babyspeck und einem Arm voll Freundschaftsbändern, bin dreizehn, mein Vater, der Taschengeldmann und Freund, seine Elfenbeinküste-Mütze auf der haarlosen, sonnenempfindlichen Glatze seines Kopfes, ist ein alter Mann mit Bauchansatz und Ärger mit dem Leben (Der Ernst des Lebens).
Ich habe meine erste Freundin (Isabelle, eine vor zwei Wochen im Greenpeace-Lager getroffene Innerschweizerin und – wie ich heute sagen würde – Holzfällerin von Mädchen), bin ganz verliebt in das Gefühl, verliebt zu sein, und träume „BRAVO“- „POP-ROCKY“ und „POPCORN“- gespeiste Pubertäts- Träume. Hier, zwischen Sabrina und Samantha, Starschnitt und Hitparade, Liebe, Sex & Zärtlichkeit, bin ich, der aufstrebende Pollutionist, zu Hause. In einem buntknalligen Kosmos voll kaum aussprechbaren, mir aber, so sah das aus, durchaus bevorstehenden Versprechungen: Zungenkuss, Busen, Schambereich – Hammer.
Und darum stehe ich auch, wenn wir nicht gerade am Strand liegen, ich in einen Seeigel getreten bin, mein Vater Sonnenbrand hat, oder wir Frutti die Mare und Pizza essen, Kirschcola trinkend an der Jukebox, werfe ein 200.Lire- Stück nach dem nächsten ein, um immer und immer wieder dieses quasi Musik gewordene Petting (oder was jetzt) eines, wie ich später erfahre, schwulen Griechen aus England zu vernehmen, und bin immer wieder blitzartig erotisiert: „I want your sex“ von George „it’s natural“ Michael, dem Mann, der mir – der gerade dabei war, das Wichsen zu optimieren und das Küssen zu lernen – hörbar aufzeigte, dass es da ein Leben nach Kuschelrock, Händchenhalten, Rummachen und Wettwichsen geben musste, und es alles weiter, viel weiter gehen sollte.
Wie weit es gehen konnte, – und dass in einem Menschenleben auch Zeiten vorkamen, in denen einem der Appetit ganz plötzlich nach was anderem zu stehen kommen sollte – sah ich vier Jahre später, als meine vierte oder fünfte Freundin Claudia (Greenpeace- Isabelle nicht mitgezählt) von mir schwanger geworden war.
Aber da, im Sommer 87, an die Jukebox gelehnt, eine Hand voll Lire, in der anderen eine Kirschcola, immer wieder dieses durch und durch befleckte Lied im Ohr meines mit unschuldigen Ahnungen gefüllten Babyspeckkopfes, lag mir alles noch Terra incognita gleich vollkommen unangetastet und schön und geheimnisvoll unerforscht im Ungefähren, wusste ich noch nichts von übermässigem Alkoholgenuss, wegrutschenden Kondomen, Pillen, die Pariser überflüssig machten, und klang mir das Wort Petting noch wie ein sehr ferner, noch nie bestiegener Berg in Afrika, während ich hier war, in Italien, und mir auszumalen versuchte, was genau man sich unter dem Begriff Zungenkuss vorzustellen hatte, und wie man das, wenn es denn einmal soweit wäre, genau und möglichst formvollendet anzugehen hätte.
Ja, und fast gestorben vor Sehnsucht bin ich dann später, viel später auch noch. Als dieser Riese mit einmal aufstand, nach mehr als nur nach Limonade und diffusen Träumereien verlangte, die Stimme erhob und sagte: „Alles. Ich will alles“, und ich alles versuchte, aber nichts erreichte von dem, was man gar nicht machen, sondern bloss empfangen kann; wenn einen die Liebe des Moments für würdig hält.