Du brauchst Chips, Flips, Salzstangen, Würstchen, Kuchen, mindestens zwei Kisten Cola, Fanta, Sprite gemischt, Wein oder Bier, oder besser: Wein und Bier, eine Flasche Malibu, Batida, Amaretto, Eierlikör – was du in die Hände bekommst, Lampions, Lichterketten und Kerzen, vielleicht ein paar coole Poster für an die Wände, nicht unbedingt eine Discokugel, sicher aber einen passablen, nicht zu kleinen, definitiv aber auch nicht zu grossflächigen Dancefloor, einen Ghettoblaster, drei, vier Kassetten, ein paar Sitzsäcke, ein gutes Händchen für eine ausgewogene, harmonische Mischung aller Eingeladenen (und nicht Eingeladenen), ein bissschen Glück, dass das Mädchen an dem du still und heimlich deine Freude hast, auch mit von der Partie ist – und ein Kissen.
Wir treffen uns bei Fabienne in Wauwil. Da steht der beste Partykeller den ich kenne, da sind wir, und alles was es noch braucht, ist schon da. Ihre Eltern stressen null. Es gibt Geschenke: Lustige, neonbunte Figuren, die Radiergummis sind, Bleistifte, die, wenn man unten reibt, nach Cola riechen, für die Mädchen Glitzerlippenstift und Badezusätze in Herzchenformat. Herr Fischer hat eine ganze Scheune voll mit so was. Er und seine Frau sind Krämer, und fahren damit über die Dörfer und Kleinstädte, von Markt zu Markt. Frau Fischer wäscht ab, Herr Fischer fährt irgendwohin, und wir verziehen uns nach unten. Jetzt sind wir unter uns. Zum Glück sind meine Kumpels da. Es wird ernst. Ich zieh mir einen Pappbecher aus der Becherschlange, mix mir erstmal eine Spezi, lehne mich an die Wand, tauche meine klebrige Hand in die Schüssel mit Flips, die vor mir steht, greife mir eine Faust voll, spüle die Pampe mit Brause runter und beobachte Milena. Sie knabbert an einer Salzstange, Patrick steht neben ihr und quasselt, ich kann nicht verstehen was, weil mich Alex fragt, ob ich die Kassette mit dem Toten Hosen – Lied dabei habe. Ich wühle in meinem Rucksack nach der Kassette, schaue mit einem Auge auf Milena und Patrick, erfühle die Flasche Malibu, nicht aber die Kassette, und stelle mir vor, was gleich passieren wird. Schliesslich finde ich die Kassette, lege sie ein, und wir pogen. Ich trete Patrick vor’s Schienbein. Er schreit auf. Dann springe ich ihm von hinten in den Rücken. Er purzelt erst auf Jörg, der mit dem Kissen in der Ecke sitzt und einen Anfall von Jähzorn bekommt, und von da hart auf den Boden. Er heult ein bisschen, verzieht das Gesicht und hält sich den Kopf, kommt aber im selben Augenblick schon wieder hoch, steht auf, der Spast, und grinst sein behindertes Grinsen als wär‘ nichts gewesen. Pause. Wir liegen da und keuchen, lassen eine 3.- Liter- Colaflasche rumgehen. Der schwarze Saft gluckert geräuschvoll die Kehlen hinab. Es ist für einen Moment das einzige Geräusch. Ich wische mir den Schweiss runter, nehme mir ein übriggebliebenes Würstchen vom Teller, und beisse ab. Sie schmeckt so wie sie schmecken muss, die Wurst, aber dann sehe ich es, und ich höre auf zu kauen: Milena und Alex. Alex, der Shower, der Player, der Winner, der Tennisspieler. Alex, mein Freund, dem ich einmal dabei geholfen habe, fünfhundert Liebesbriefe an Lea zu schreiben. Alex, mein Freund, den ich in jeder Pause von meiner Leberwurststulle abbeissen lasse. Milena wirft ihren Kopf zurück und macht an ihren, von mir geliebten, Haaren herum. Es ist ein Zeichen. Alles ist ein Zeichen. Oder alle Zeichen sind nichts. Ich weiss nicht. Auf jeden Fall aber ist alles was Alex anstellt, selten komplett falsch, und wenn er nichts tut, so sieht es zumindestens aus, ist es auch okay.
Sie lächelt. Und arbeitet sich durch ihre Locken. Während Alex nur dasteht und grinst. Dann geht er weg von ihr, zu Samantha, und sie steht wieder alleine da, an die Wand gelehnt, und schaut irgendwohin. Ich schau sie mir an, aber noch bevor ich überhaupt denken kann: ich könnte ja mal zu ihr rüber, irgendwie, und irgendwas sagen oder so, dreht sie ihren Kopf in meine Richtung, schaut mich an, und ich breche innerlich zusammen. Sie fährt sich durch die Haare und schaut woandershin. Ich hänge atemlos, ein halbes Würstchen vor mir, am Buffet, und fühle mich wie ein in die Enge getriebenes, angeschossenes Tier. Uns trennen dreieinhalb Meter – aber was verbindet uns? Die Vorstellung dann aber, uns könnte jetzt tatsächlich etwas verbinden, also nicht bloss in meiner kindlichen Phantasie (von etwas, von dem ich keinen Plan hatte), und auch sie könnte jetzt und in diesem Moment wirklich etwas von mir wollen, macht mich wahnsinnig. Ich gebe mir einen Ruck, löse mich vom Buffet und aus meiner Erstarrung, lasse das Würstchen liegen, und renne die Treppe hoch und raus.
Draussen stehen Jan, Marc, Philip, Jonas und Monika, und teilen sich eine Flasche Eierlikör. Jonas hat eine Flasche Bananenlikör. Eine grün schimmernde Flüssigkeit, die erst lustig aussieht, einmal im Mund dann aber ganz schön brennt. Wir stehen im Kreis und trinken grosse Schlucke, und so langsam merke ich was: Ein wohlig warmes Gefühl zieht hoch, breitet sich aus, legt sich über mich und die Welt, und macht alles gut und leicht. Was würde Milena sagen? Dann fällt mir die Flasche Malibu ein, wir machen sie leer, und sind plötzlich alle richtig voll. Jan kotzt in den Garten. Monika quasselt und kichert und quasselt und rülpst, muss dann auch, und während sie würgt und die Kotze aus ihr rausbricht, kichert und quasselt sie einfach weiter, aber mit Tränen in den Augen. Marc hat schon lange nichts mehr gesagt, sitzt apathisch auf der Gartenbank, Jonas versucht die Strassenlaterne auszukicken, Philip zittert und redet mit sich selber, und jemand hat sich über ihn gebeugt und labbert ihn zu. Wie lange stehe ich jetzt schon hier? Es könnten zwanzig Minuten sein, aber auch zwei Stunden wären möglich. Was macht Milena? Ich schiebe mir einen Kaugummi in den Mund, wanke ein paar Meter vom Haus weg, und pisse an die Scheune. Der Himmel über mir wie gemalt, während meine Pisse unten dampfend Löcher und dann ein grosses M in den kalten Schnee fräst. Meine Schritte zurück wie auf Gummi, wabblig federnd. Hoch und runter. Nach hinten und nach vorne. Die Treppe macht dann Schwierigkeiten. Ich rutsche weg und falle auf meinen Arm. Gebrochen, denke ich sofort, tut dann aber nur ein bisschen weh. Unten läuft Kuschelrock, ich halte mir den Arm, und habe nichts verpasst. Aber man kann es spüren: Es liegt was in der Luft. Alle schauen irgendwie anders, wollen gefragt werden, oder fragen sich, wen sie fragen sollen. Und dann geht es los: „I can feel it, comin‘ in the air tonight“. Die ersten Paare drehen sich unter der Discokugel im Kreis. Milena wartet. Jetzt kommt Philip, und sie tanzen. Ich frage Andrea. Sie ist mein Warm-up, und ich hoffe, dass auch Philip für Milena nicht mehr als das ist: Ein Aufwärmprogramm für Eigentliches. Die Musik geht zu Ende, und jetzt kommt’s: „Still loving you“. Schnell löse ich mich von Andrea, die auch sofort loslässt, gehe rüber und frage Milena. Ihre Haare riechen bombastisch gut. Ich verliebe mich wieder und wieder in diesen Duft, bin berauscht davon, und er ist natürlich sie, dieser Duft, und kann überhaupt nur sie sein und zu ihr gehören. Sie ist der Duft und der Duft ist sie. Und sie ist da, und ich bin ganz nah, mit meiner Nase an ihrem Haar. Und das ist in diesem Augenblick nichts anderes als das Paradies. Wir tanzen zu „Still loving you“, zu „Nothing’s gonna change my love for you“, zu “Say me, say you”, dann lösen wir uns langsam voneneinader, nicht weil wir wollen, sondern weil wir müssen, stehen einen Moment lang verloren da, versinken im nächsten zusammen im Sitzsack, und wissen nicht, was wir sagen sollen. Meine Hände sind feucht. Ich reibe sie trocken. Was wäre, frage ich mich, wenn sie sich jetzt einfach mal selbständig machten, die Hände, ganz so, als ob sie Teile wären, die nicht zu mir gehörten, und sich nur wie zufällig auch da befanden, wo ich gerade war. Aber sie bleiben wo sie sind, genau wie ich, untätig liegen, während die Minuten und Momente lippenkauend verstreichen. Sandra kommt gelegen. Sie ist das, was wir eine Schreckschraube nennen. Genau das richtige also, um jetzt ganz schnell wieder auf andere Gedanken zu kommen – oder auch einfach auf keine. Milena hat Jörg aufgefordert, und der freut sich, kann er das Kissen, mit dem er die ganze Zeit getanzt hat, mal loslassen, und endlich mit einem echten, einem richtigen Mädchen Kreise drehen. Und ich war glücklich und zufrieden. Ich hatte sie gehabt. Sie hatte mir drei Tänze geschenkt. Mich an ihren Haaren riechen lassen. Mehr ging nicht. „Willst du mit mir gehen?“, das kam erst viel später. Dann, als das alle sagten und hören wollten, und klar war, was es bedeutete. Damals aber hätte ich damit nichts anzufangen gewusst und vielleicht gedacht: Gehen, ja klar – aber wohin?